Ko­hä­rente Selbsterzählungen sind überlebenswichtig

Ko­hä­rente Selbsterzählungen

Geschichten prägen also die menschliche Gesellschaft und jeden Menschen in ihr. Durch Geschichten werden Gemeinschaften formiert und Taten motiviert und begründet. Unsere Handlungen und die Ereignisse unseres Lebens interpretieren und bewerten wir durch unsere Erzählungen über diese…


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Warum Geschichten für uns bedeutsam sind

Es gibt kaum ein mächtigeres Mittel als das erzählte Wort. Ohne Geschichten und ohne Geschichte können wir Menschen nicht sein. Der Grund hierfür ist, dass wir vernunftbegabt sind. Als zu Bewusstsein erwachte menschliche Personen sind wir in einem doppelten Sinn geschichtliche Wesen. Einerseits sind wir, wie andere Dinge der Welt, Dinge mit einer äußeren Geschichte. Z.B. war ein Wanderstab zuerst ein Ast eines bestimmten Baumes, dann wurde er abgeschnitten und verarbeitet an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit von einer bestimmten Person usw.

Jeder Mensch, als Beziehungswesen, wird hineingeboren in eine bestimmte Zeit, an einen bestimmten Ort, von einer bestimmten Mutter, in ein bestimmte Familie und Gesellschaft usw. Wie andere Dinge dieser Welt hat also auch der Mensch als körperliches Wesen eine äußere Geschichte.

Das Wesen mit einer doppelten Geschichte

Im Gegensatz zum Ding ohne Bewusstsein, hat der Mensch neben der Geschichte seines äußeren Körpers, deren er sich im Unterschied zum unbewussten Ding bewusst ist, auch eine innere geistige Geschichte als diese einmalige, sich selbstbewusste menschliche Person. Sobald der Mensch zum Bewusstsein erwacht und sprachfähig wird, fängt seine innere Geschichte an. Diese seine innere Geschichte ist die dominante Haupterzählung, in die er die äußere Geschichte seines Körpers integriert, sodass sie zu einer Geschichte verschmelzen. Die Lebensgeschichte ist für jeden Menschen prägend. In ihr ist der jeweilige Mensch der Hauptcharakter, der sich in den Konflikten und den Herausforderungen des Lebens zu bewähren hat.

Die Selbsterzählungen als Schatzkarte

Was sind die Lebensziele des jeweiligen Menschen? Was oder wen liebt er? Was sind seine Grundgefühle? Wie sind seine Bindungen geprägt? Was sind seine Schwächen und Stärken? Was sind seine Kämpfe? Diese und ähnliche Fragen werden hauptsächliche durch die narrative Identität des jeweiligen Menschen beeinflusst und durch den narrativen Frame richtungsweisend gelenkt.

Hierbei kann das Leben als eine Schatzsuche begriffen werden. Jeder Mensch ist dabei der jeweilige Hauptakteur, der sich freilich in Gemeinschaft und auch in Konkurrenz mit anderen Schatzsuchern, die zur selben Zeit am selben Ort leben, befindet. Die identitätsprägende Selbsterzählung kann somit metaphorisch als Schatzkarte begriffen werden.

Die Zukunft ist für jeden Menschen ungewiss, da wir Menschen im Jetzt leben, und die Zukunft nicht vorhersehen können. Auch haben wir nicht die Macht, diese vollkommen zu bestimmen, da es andere Menschen und Kräfte gibt, die sich außerhalb unseres „Machtbereiches" befinden und auf uns Einfluss nehmen können. Durch unsere Gedanken, Ideen und Handlungen können wir zwar unsere Zukunft prägen, wir haben aber nicht die Gewissheit, dass unsere Zukunft sich gemäß unseren intendierten Plänen unserer Selbsterzählung entwickelt.

Wenn das Selbstnarrativ zerfällt

Geschichten prägen also die menschliche Gesellschaft und jeden Menschen in ihr. Durch Geschichten werden Gemeinschaften formiert und Taten motiviert und begründet. Unsere Handlungen und die Ereignisse unseres Lebens interpretieren und bewerten wir durch unsere Erzählungen über diese. Das gilt sowohl für die Selbsterzählung, als auch für das Erzählen über andere. „[W]as für den einen ein Gedicht ist, das ist für andere eine Wolke“, sagt uns dementsprechend Fjodor M. Dostojewski...

Da der Mensch eine Einheit von Leib und geistigem Lebensprinzip (gr. ψυχή) ist, bedarf er auch für seine psychische Gesundheit einer kohärenten Selbsterzählung, durch die er seine eigene Identität begründet und all seinen Handlungen Sinn gibt. Durch die Selbsterzählung schafft also der Mensch für sich und andere eine Realität, durch die die Sachverhalte der Wirklichkeit (Gedicht oder Wolke) ihre, für den Menschen relevante, Interpretation erhalten.

Es macht also für mich und meine Zukunft als dieser Mensch einen gewaltigen Unterschied, ob ich mich durch die Brille meiner Selbsterzählung als z.B. jemand wahrnehme, der Versagen und Fehler in dichter Folge in seinem Leben aneinandergereiht hat, oder als jemand, der trotz widriger Umstände, Schicksalsschläge und Pech nicht aufgegeben hat, da er an etwas glaubt, das größer ist als all dies und wofür es sich lohnt zu kämpfen. Die Selbsterzählung schafft also Sinn, der im besten Fall über die menschliche Person heraus weist.

Das heißt, unsere Lebenserzählung ist voller Spannung - wie wird sie sich wohl weiter entwicklen, können wir unsere ursprünglichen Pläne verwirklichen? Oder werden wir von ungeahnten Ereignissen „aus der Bahn geworfen“? Vielleicht werden wir von dem geplanten Pfad zum Schatz abgelenkt, lernen neue Menschen kennen, vielleicht ändert sich auch der Schatz oder der Charakter unserer Erzählung. Es kann aber auch zu solchen biographischen disruptiven Ereignissen kommen, dass unser Narrativ (unsere Schatzkarte) als solche in Stücke zerfällt und vom Wind verweht wird.

Solch eine Zersplitterung der eigenen narrativen Identität kann für die betreffende Person psychologisch lebensgefährlich sein, da sie dann jeglichen Halt und Sinn im Leben zu verlieren droht.. Wenn Unsicherheiten und Zerklüftungen in der Lebenswirklichkeit des Menschen um sich greifen und auch vor der eigenen Selbsterzählung nicht halt machen, drohen diese, die Kohärenz der Selbsterzählung aufzulösen oder zu zersplittern. Eine solche narrative Zersplitterung ist immer dann psychologisch lebensgefährlich, wenn es der betreffenden Person nicht gelingt, die narrativen Fetzen in eine neue Erzählung einzubetten und ihnen so neuen Sinn zu verleihen, also mit und aus den narrativen Bruchstücken eine neue Erzählung, eine neue Schatzkarte zu formen.


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  1. #Ganas-Methode
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