Besprechung v. Ledićs Diss.

Raphael E. Bexten: [Rezension zu]: Heideggers »Sach-Verhalt« und Sachverhalte an sich - Studien zur Grundlegung einer kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers Seinsbegriff von Juraj-D. Ledić


ISBN: 978-3-86838-052-1. € 149.00 E-Book: € 36


»›Ich kenne Deinen muffigen mittelalterlichen Satz vom Widerspruch. Esse et non-esse non possunt identificari. [...] Aber der gilt nur jetzt. [...] Nur im Augenblick. Es kann auch anders sein. Eines Tages wird Dein esse und Dein non-esse zusammengehen wie [...] die Hand in einen Handschuh.‹«

Intro

Martin Heidegger schreibt in »Holzwege«:

»Von der Metaphysik her begriffen (d. h. von der Seinsfrage aus in der Gestalt: Was ist das Seiende?) enthüllt sich zunächst das verborgene Wesen des Seins, die Verweigerung, als das schlechthin Nicht-Seiende, als das Nichts. Aber das Nichts ist als das Nichthafte des Seienden der schärfste Widerpart des bloß Nichtigen. Das Nichts ist niemals nichts, es ist ebensowenig ein Etwas im Sinne eines Gegenstandes; es ist das Sein selbst, dessen Wahrheit der Mensch dann übereignet wird, wenn er sich als Subjekt überwunden hat, und d. h., wenn er das Seiende nicht mehr als Objekt vorstellt.« (Heidegger 2003, S.112f.)

Wie ist dieses Zitat von Heidegger zu verstehen, was will er dem Leser mit Sätzen, wie den obigen sagen? Ist das Nichts wirklich niemals nichts? Ist das Nichts wirklich »ein Etwas im Sinne eines Gegenstandes«? Ist es wirklich »das Sein selbst«, wie Heidegger meint? Was versteht Heidegger unter »Sein«, »Seindem«, »Nichts«, »Sein des Seienden« etc.? Was ist ein »Sachverhalt«?

Auf diese Fragen und viele mehr versucht Ledićs Dissertation an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Lichtenstein (IAP), die 2009 in der Reihe Realistische Phänomenologie beim Ontos-Verlag erschienen ist, einen Antwortansatz zu liefern.

Inhaltlicher Überblick

Die umfassende und detaillierte Dissertation gliedert sich in drei Teile: Der erste Teil (I.) behandelt, wie auch aus dem Titel ersichtlich, Heideggers Seinsbegriff und seine »richtige« Interpretation. Heideggers Seinsbegriff kommt insbesondere in dem von Heidegger geprägten Begriff des »Sach-Verhaltes« zum Ausdruck, da, wie Ledić überzeugend zeigen kann, für Heidegger »das Sein Selbstverhalten ist und sich restlos in diesem erschöpft.« (Ledić 2009, S.166.).

In dem zweiten Teil (II.) der Arbeit, der neben der »kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers Seinsbegriff« den eigentlichen Kern des Werkes darstellt, geht es um »das Sosein und Dasein von Sachverhalten« und weitere für die Sachverhaltsthematik relevante Fragen. Eingerahmt wird die »systematische Analyse« des Sonseins und Daseins von Sachverhalten durch einen geschichtlichen Überblick über den Sachverhaltsbegriff.

Der dritte Teil (III.) der Dissertation greift die im ersten Teil auf »darstellendes Verstehen« angelegten Ausführungen und Erklärungen zu Heideggers Seinsbegriff, durch die Ledić die Kohärenz seiner Heidegger Interpretation untermauert, wieder auf und entfaltet die in den beiden ersten Teilen implizierte Kritik an dem Heidegger'schen Seinsbegriff. Somit stellt der dritte Teil der Arbeit, dies sei hier schon zu Beginn gesagt, zusammen mit dem ersten Teil, eine gelungene und gerade durch die Klarheit und Kohärenz der vorgebrachten Argumente überzeugende Kritik an Heideggers Seinsbegriff und an der heute weithin gängigen Interpretation Heideggers dar.

Ad. I. Was versteht Heidegger unter »Sein«, dem »Sein des Seienden« und ontologischer Differenz? - ein kurzer Überblick

Die Darstellung und das Erklären der wesentlichen Gedanken und Begriffe im Denken Heideggers ist Ledić gut und verständlich gelungen, so dass dieser Teil der Arbeit, auch unabhängig von dem Kernstück über die Sachverhaltsthematik, als »hermeneutischer Schlüssel« für die oft dunkel erscheinende Philosophie Heideggers gebraucht werden kann.

Ledić gelingt es, einige wesentlichen Gedanken der Heidegger'schen Philosophie dem Leser verständlich darzustellen und zu erklären, ohne gleich zu werten. Es wird dem um Verständnis bemühten Leser klar, dass es hier primär nicht um eine Wertung, sondern um ein Verstehen, das jedweder Wertung vorausgehen sollte, geht. Der Autor kann anhand von zahlreichen Zitaten und ähnlichen Interpretationen anderer Heidegger Interpreten, argumentativ begründet aufzeigen, wie nun kurz angedeutet werden soll, was in den Augen von Heidegger das Sein ist.

Was meint Heidegger z. B. wenn er von »Metaphsik«, »Seinsvergessenheit« und dem »Unterschied« spricht oder davon, dass es »die Sache des Seins ist [...] das Sein des Seienden zu sein«? (Heidegger 2003, S.364.)

Für Heidegger gibt es nur das Sein im »absoluten Singular«, das Seiende ist vom Sein nicht etwas Verschiedenes, das eine eigene, von anderen Seienden unterschiedene, Selbstidentität besitzt, sondern das Seiende ist die »Andersheit« des Seins, das Seiende ist also somit für Heidegger das Sein selbst. Die »Nichtung« des Seienden ist somit das Sein und das »genichtete Seiende« ist das Sein. Wenn nun aber, wie dies in der klassischen Metaphysik geschieht, das »Sein selbst«, Gott bzw. das ens a se vom Seienden, dem ens ab alio unterscheidet wird, so ist das in Heideggers Augen, ein Ausdruck von Seinsvergessenheit, denn »für Heidegger«, so erklärt Ledić weiter, »wird durch die und aufgrund der Unterscheidung der Unterschied nicht gesehen! Offensichtlich wird demnach für Heidegger der Unterschied verfehlt, weil unterschieden wird!« (Ledić 2009, S.53.) Für Heidegger ist somit die klassische Metaphysik, wie Ledić schreibt, »der eigentliche Nihilismus. Aber dieser Nihilismus ist kein Fehler, weil ja das Sein selbst sich als Nihilismus vollzieht und damit selbst dieser Nihilismus ist.« (Ledić 2009, S.81f.) Überdies ist für Heidegger das »Sein selbst ›die Irre‹« - »[d]as Sein verschleiert sich mit sich selbst vor sich selbst«, das Sein ist »verwirrt« (Ledić 2009, S.132.).

Was versteht Heidegger unter der „ontologischen Differenz“?

Im zweiten Kapitel des ersten Teiles erklärt Ledić was Heidegger unter der ontologischen Differenz versteht:

In Identiät und Differenz schreibt Heidegger:

»Klar ist nur, daß es sich beim Sein des Seienden und beim Seienden des Seins jedesmal um eine Differenz handelt. Sein denken wir demnach nur dann sachlich, wenn wir es in der Differenz mit dem Seienden denken und dieses in der Differenz mit dem Sein. [...] Was haltet ihr von der Differenz, wenn sowohl das Sein als auch das Seiende je auf ihre Weise aus der Differenz her erscheinen? [...] Sein zeitigt sich als entbergende Überkommnis. Seiendes als solches erscheint in der Weise der Unverborgenhiet sich bergende Ankunft.ausausssaajakaakdakdfjgffghsdflkö« (Heidegger 1957, S.59ff.)

Für das »rechte« Verständnis von Heideggers Denken ist es »von entscheidender Wichtigkeit zu sehen«, dies führt Ledić erklärend weiter aus, »was Heidegger mit der Rede vom ›Sein‹ als ›Unverborgenheit‹, ›Anwesen‹, ›Lichtung‹, ›Wahrheit‹, ›Wesen‹ meint. Das Sein, das sich in allem rein prozessual zu verstehenden Seienden rein prozessual autoperformiert.« (Ledić 2009, S.82.)

Die ontologische Differenz ist bei Heidegger somit, was Ledić in aller Schärfe deutlich macht,

»nicht die Differenz zwischen mindestens zwei jeweils irgendwie mit sich identischen und daher voneinander verschiedenen Gegebenheiten, sondern die Differenz innerhalb einer und innerhalb der einzigen ›Identität‹, und nur diese. Sie ist eine Differenz ›in‹ ein und demselben ›Sein selbst‹, welches sonderbarerweise nur kraft dieser Differenz es selbst, welches nur Kraft dieser ›nichtidentischen Identität‹ es selbst ist.« (Ledić 2009, S.89.)

Dass »das Sein bei Heidegger so viele schillernde Bedeutungen annehmen kann« ist nach Ledić wenig verwunderlich, da »das Sein selbst, ja alles Seiende und damit auch

alle möglichen Bedeutungen ist oder als diese west und waltet« (Ledić 2009, S.82.)

Ein weiterer wichtiger Heidegger'scher Begriff im Zusammenhang mit der ontologischen Differenz ist die »Kehre« mit dieser steht die Heidegger'sche ontologische Differenz in engen Zusammenhang. Die Heidegger'sche ontologische Differenz besagt, so könnte zusammengefasst werden, dass die »Identität des Seins«, »nur« dann wirklich die Identität ist, »wenn sie als solche Nicht-Identität ist«, (Ledić 2009, S.118.) m.a.W. ist nach Heidegger das Sein als solches in seiner »Unverborgenheit« ontologische Differenz, insofern ist es für Heidegger, wie Ledić immer wieder betont, nicht verwunderlich, also geradezu eine Notwendigkeit, dass sich das Sein z. B. in der klassischen Metaphysik in seiner »Zerklüfftetheit«, in seiner »Uneigentlichkeit« zeigt und so dem »kundigen« Denker seine Eigentlichkeit in authentischer Weise, also in der Erscheinung der Uneigentlichkeit (z.B. der klassischen Metaphysik) offenbart. (Vgl. Ledić 2009, S.124ff.)

Trotzdem stellte sich die Frage, wie und warum es in Heideggers Augen überhaupt zur »Kehre« kommen kann.

»Warum also kann das Sein umschlagen? Weil es derart uneinig mit sich selber ist, daß es auch in der eigenen Verlassenheit nicht ruhen kann. Anders ausgedrückt läßt sich sagen: Die Uneinigkeit des Seins ›betrifft‹ sogar die eigene Uneinigkeit, so daß diese in Heideggers Augen im Moment äußerster Uneinigkeit in jene ›Einigkeit‹ umschlagen muß oder sich in jene Einigkeit ›kehren‹ muß, die darin besteht, daß die gesamte Geschichte des Seienden als solchen sich als Seinsdifferenz oder als Selbstverlassenheit des Seins eigens erblickt. Und zwar erblickt sich das Sein als Selbstverlassenheit zum ersten Mal freilich in Heidegger oder besser ausgedrückt als Heidegger.« (Ledić 2009, S.158.)

Im Folgenden werde ich kurz auf Ledićs Heidegger Kritik eingehen, doch zuvor möchte ich noch andeuten, was ein Sachverhalt an sich überhaupt ist und damit gleichzeitig das Interesse für das »Kernstück« von Ledićs Arbeit wecken.

Ad. II. Was ist ein Sachverhalt an sich?

Mit dem zweiten Teil der Arbeit wird auch ihre »innere Spannung« deutlich, denn wie Ledić hierzu anmerkt, haben »[i]n gewisser Hinsicht [...] die beiden Haupteile [I. & II.] ›nichts‹ gemein.« (Ledić 2009, S.174.)

An dieser innere Spannung »zerreißt« jedoch die Arbeit nicht, vielmehr entspringt aus ihre m. E. eine ungeahnte Fruchtbarkeit, wenn sich der Leser auf sie einlässt, diese wird spätestens im dritten Teil der Arbeit deutlich.

Da der Schwerpunkt meiner Rezension in der Dastellung Ledićs Heidegger Interpretation liegt, möchte ich nun in wenigen Worten andeuten, was ein Sachverhalt an sich ist.

In dem Kapitel »Zur Gesichte des Sachverhaltsbegriff« zeigt Ledić, »daß Sachverhalte nicht erst im 19. Jh. entdeckt worden sind.« (Ledić 2009, S.173) Überdies verdeutlicht Ledić die bedeutenden Einsichten über das Sosein und Dasein von Sachverhalten bei Denkern wie Adam Wodeham und Gregor von Rimini.

»Im Rückgriff auf Seifert« macht Ledić deutlich, dass man die formal-ontologische Struktur von Sachverhalten durch die »Formel« »das b-sein oder nicht-b-sein-des-A« (Ledić 2009, S.265.) kennzeichnen kann. Sprachlich lassen sich Sachverhalte durch Sätze wie den folgenden ausdrücken: »Das Auf-dem-Tischliegen-der-Schreibunterlage«, oder durch »dass-Sätzte«, z. B. »dass die Schreibunterlage auf dem Tisch liegt«.

Überblickend kann noch zusammengefasst werden, dass Sachverhalte »eine Gegebenheit sui generis [sind, und] daß ihre eindeutige Erfassung und Abgrenzung wesentlich vom unausgesetzten Blick auf diese selbst abhängt.« (Ledić 2009, S.179f.)

Wichtig erscheint noch darauf hinzuweisen, dass die Daseinsweise des Sachverhalts der »Bestand« ist, dass es positive und negative Sachverhalte gibt, dass es unendliche viele Sachverhalte gibt, dass es notwendige und kontingente Sachverhalte gibt, »daß Sachverhalte unmöglich die Gegebenheiten sein können, in Bezug auf welche sie als Sachverhalte bestehen«, (Ledić 2009, S.333.) dass Sachverhalte objektive und notwendige Korrelat von Propositionen sind. (Vgl. Ledić 2009, S.333.)

Ad. III. Kritik am Heidegger'schen Seinsbegriff

Durch das im ersten Teil der Arbeit vermittelte »Verständnis« der Heidegger'schen Seinsauffassung ist Ledićs Kritik an dem Heidegger'schen Seinsbegriff bei gelungener Bezugnahme auf die systematische Analyse des Daseins und Soseins von Sachverhalten, schlüssig und klar.

Überdies macht die Kritik am Heidegger'schen Seinsbegriff noch einmal die eminente Bedeutung von Sachverhalten deutlich.

Wenn man sich z. B. fragt, warum es das absolute Nichts (nihil absolutum) ein absolutes »Unding« ist, es das absolute Nichts nicht geben kann, wird die Bedeutsamkeit von Sachverhalten klar,

»[d]enn angenommen, es wäre Nichts, dann könnte dies nur dann der Fall sein, wenn auch der Sachverhalt besteht, daß absolut Nichts ist. Dieser Sachverhalt kann seinerseits nicht ein Nichts sein, da ansonsten das Nichts nicht sein könnte. Wäre der Sachverhalt, daß Nichts ist, seinerseits ein Nichts, dann könnte er auch nicht bestehen. Würde aber der Sachverhalt, daß Nichts ist, nicht bestehen, dann hieße dies notwendigerweise, daß etwas wäre.« (Ledić 2009, S.527.)

Ledić zeigt, für jedermann nachvollziehbar, auf, »daß Heideggers Sein bereits dann widerlegt ist, wenn gezeigt werden kann, daß es auch nur zwei voneinander verschiedene Dinge gibt«, (Ledić 2009, S.515.) da die Sachverhalte eine »Entität sui generis« sind, wie im zweiten Teil der Arbeit gezeigt worden ist, kann es entgegen Heideggers Meinung, kein Sein im »absoluten Singular« geben.

Somit ist Heideggers Seinauffassung, »ist Heidegger Sein als Selbstverhaltenheit eine Konstruktion in Heideggers Kopf«. (Ledić 2009, S.514.) Hinzukommt, dass

»[i]ronischerweise [...] Heideggers Sach-Verhalt, insofern er für die Andersheit und damit für die totale Konfundierung allen Seins steht, zwar nicht nur, aber gerade am Sosein und Dasein von Sachverhalten zerbricht.« (Ledić 2009, S.515.)

Mit seiner Kritik möchte Ledić, wie er auch im dritten Teil explizit schreibt, in keiner Weise die Genialität Heideggers in Frage stellen, jedoch müssen auch die Auffassungen von Genies anhand der Wirklichkeit z. B. den notwendigen und höchst intelligiblen Sachverhalten gemessen werden.

IV. Abschließende Stellungnahme**

Befremdlich erscheint mir, dass Ledić in seiner gesamten Arbeit nicht die Heidegger Schüler- und Kritikerin Alma von Stockhausen erwähnt und das, obwohl Ledićs Heidegger Kritik, wenn diese auch viele Unterschiede aufweist, in einigen entschiedenen Punkten, der von Alma von Stockhausen zu ähneln scheint.

Diese Kritik darf aber nicht über die Klarheit und Tiefe von Ledićs Heidegger Verständnis und Kritik hinwegtäuschen.

Insofern hält die Arbeit das, was im Untertitel versprochen wird, nämlich eine Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung mit Heideggers Seinsbegriff zu schaffen, welche heute von großer Wichtigkeit, nicht nur für die Philosophie ist.

Überdies stellt die Arbeit einen wichtigen Beitrag innerhalb der realistischen Phänomenologie und der Sachverhaltsforschung dar und zeigt, wie wichtig es ist, »von den Dingen selbst her zu philosophieren« und nicht bloß über sie. Somit untermauert Ledićs Beitrag auch die Bedeutung der realistischen Phänomenologie in der Tradition der Göttinger-Münchener Schule für die »moderne« Philosophie.


Relevant

  • Erstpubliziert: St. Vit -- 2010 -- urn:nbn:de:0288-20110427109

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