Husserl als Begründer der Phänomenologie

Husserl kann als Initiator dreier, grundverschiedener, einander widersprechender phänomenologischer Richtungen angesehen werden, nämlich der realistischen, der transzendental-idealistischen und der existentialistischen Phänomenologie (Abb. unten). Die, an ihrer Bekanntheit und Verbreitung gemessene, bis dato kleinste dieser drei phänomenologischen Richtungen ist die realistischen Phänomenologie. Was zeichnet diese philosophische Methode aus?

Husserls philosophische Wende

Ab ca. 1905 vollzog Husserl eine, sich über einen längeren Zeitraum entwickelnde, geistige Wende hin zu einem transzendentalen Idealismus. Husserls Wende zum transzendentalen Idealismus kann hier nur angedeutet werden, sie wurde von vielen seiner Schüler nicht mitvollzogen und kritisiert. Nach Husserls späterer subjektivistischen transzendental-idealistischen Ansicht, wenn diese auch bisweilen nicht immer deutlich ausgedrückt wird und von ihm selbst sogar bestritten wird, scheint Husserl davon auszugehen, dass die reale Welt von dem Bewusstsein abhängig sei und dass das bewusste Subjekt diese als „Weltphänomen“ konstituiert. So geraten z. B. die Wirklichkeit des Bewusstseins, dem etwas erscheint, in seinem Realsein und auch andere seinsautonome Dinge aus dem philosophischen Blick. Diese philosophische Ansicht wird deswegen zu Recht als transzendentaler Idealismus bezeichnet. Dieser ist eine starke Form des subjektivistischen Immanetismus, da u. a. die Seinsautonomie der realen Dinge durch die Seinsabhängigkeit vom bewussten Subjekt ersetzt wird.

Husserlzitate

In seinen Logischen Untersuchungen schreibt Husserl über die Wahrheit:

„Was wahr ist, ist absolut, ist ‘an sich’ wahr; die Wahrheit ist identisch Eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen. Von der Wahrheit dieser idealen Einheit gegenüber der realen Mannigfaltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen sprechen die logischen Gesetze und wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt sind.“ (Husserl, 1900, 117f. (125))

Mit diesen und anderen philosophischen Ansichten Husserls, insbesondere denen aus seinen Prolegomena zur reinen Logik vertritt die realistische Phänomenologie einen Objektivismus. Es gibt apodiktische Wahrheitserkenntnis, objektive Wahrheit, die nicht auf Denknotwendigkeiten und dgl. zurückführbar ist, wie Husserl in der Widerlegung des logischen Psychologismus als einer Form des skeptischen Relativismus durch Argumente einsichtig zu machen sucht. Die logischen Gesetze sind objektive Gesetze, die sowohl in der realen Welt als auch in allen möglichen Welten als diese gelten, sie lassen sich nicht auf etwas anderes als sie selbst reduzieren, schon gar nicht auf psychologische Denkgesetze. Hier werden auch, jedenfalls andeutungsweise, Bezüge des realistischen Phänomenalismus zu Husserls Logischen Untersuchungen und zur Philosophia perennis deutlich.

Husserl erkennt in seinen Logischen Untersuchungen von 1900 und 1901, wie auch alle späteren realistischen Phänomenologen, die Einsicht, also das geistige Verstehen z. B. eines nicht-emprischen (apriorischen) notwendigen Sachverhalts, der beispielsweise ontologisch im Sosein einer notwendigen Wesenheit fundiert ist, als Grundmethode der Philosophie an. Realistische Phänomenologen erkennen also die Einsicht als einzigen epistemologischen Weg an, der zu unumstößlich wahren synthetischen universellen Urteilen (Urteilsinhalten) führt, die nicht deduziert worden sind. Durch die Methode der Induktion hingegen, kann der Erkennende, wegen des erkenntnistheoretischen Defizits, das aufgrund des generalisierenden Schlusses, ausgehend von einer durch Sinneserkenntnis, innere oder psychologische Erfahrung kontingenter Naturen und Sachverhalte beobachteten, möglichst repräsentativen Einzelbeobachtung ähnlicher Seiender zustande kommt, hingegen nur zu synthetischen problematischen universellen Urteilen gelangen. Die logische Wahrheit ist von der ontologischen Wahrheit, also der Wahrheit des Seins, zu unterscheiden. Erstere wird von Urteilen getragen, das heißt, im engen Sinn können nur Urteilsinhalte wahr oder falsch sein.

Es muss somit, entgegen der Meinung des Psychologismus, zwischen dem Urteilsakt als individuelle psychische Denktätigkeit und dem nicht-psychischen Urteilsinhalt differenziert werden. Der Urteilsinhalt ist also wesensverschieden vom Urteilsakt. Er ist ein eigenes Urphänomen, das zwar durch den Urteilsakt gedacht wird, aber selbst keine psychische Denktätigkeit sein kann und deswegen auch nicht zum denkenden Bewusstsein bzw. zum denkenden Ich gehört. Durch Aussagesätze werden Urteile (Urteilsinhalte) erkennbar oder vernehmbar ausgedrückt. Doch nicht Aussagesätze, sondern nur Urteilsinhalte behaupten Sachverhalte. Urteile bzw. Urteilsinhalte geben vor, wahr zu sein, indem sie einen Sachverhalt behaupten. Hedwig Conrad-Martius erklärt hierzu: „Das intentionale Korrelat des Urteils ist der Sachverhalt.“ Unter Sachverhalt wird, wie es besonders Reinach philosophisch herausgearbeitet hat, ein b-Sein bzw. nicht-b-Sein eines A verstanden. Sachverhalte bestehen unabhängig vom menschlichen Bewusstsein. Es bestehen unendlich viele Sachverhalte von unterschiedlicher Modalität, die alle möglichen verschiedenen Seinsbereiche betreffen können. „Sachverhalte stehen in Beziehung von Grund und Folge; [nur sie] können als Gründe und Folgen auftreten.“ Realistische Phänomenologen können überdies auf die für das Bestehen einer echten Metaphysik78 entscheidende Frage Immanuel Kants, „Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?“,79 eine Antwort geben, die das Apriori nicht, wie es Kant tut, zur transzendentalen Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt macht. Realistische Phänomenologen erkennen vielmehr ein extramentales (materiales) Apriori (eine Soseinsnotwendigkeit) an, das als solches unabhängig vom Erkennenden existiert und aufgrund seines intrinsisch notwendigen und intelligiblem An-sich-Seins absolut gewiss erkannt werden kann. Es ist somit ein Reduktionismus und philosophischer Irrtum, das Apriori mit dem Formalen gleichzusetzen. Das extramentale (formale und nicht weniger das materiale) Apriori ist also ein weiteres wichtiges philosophisches Element der realistischen Phänomenologie , auf das auch Husserl in seinen Logischen Untersuchungen von 1900 und 1901 z. B. in der Lehre vom Ganzen und seiner Teile81 eingeht, indem er die Soseinsnotwendigkeit philosophisch darlegt:

„Wo also im Zusammenhang mit dem prägnanten Terminus denken das Wörtchen können auftritt, ist nicht subjektive Notwendigkeit, d.i. s u b j e k t i ve Un f ä hi g ke it des Sich-nicht-andersvorstellen-könnens, sondern o b j e k t i ve No twe n d i g ke it des Nicht-anders-sein-könnens gemeint. Diese kommt uns subjektiv (obschon nur ausnahmsweise) zum Bewußtsein in der apodiktischen Evidenz.“83

Das objektiv notwendige So-Sein, die notwendigen Soseinseinheiten, die apriorischen Strukturen bzw. das materiale Apriori,84 die notwendigen Wesensgesetze und die notwendigen Wesenssachverhalte sind neben der Existenz der Dinge ein wichtiger Forschungsgegenstand der Philosophie, so die These der realistischen Phänomenologie . Das objektiv notwendige So-Sein der notwendigen Soseinseinheiten basiert auf keiner psychologischen Denknotwendigkeit oder notwendigen Denkgesetzen. Es ist auch nicht durch ein reines (transzendentales) Bewusstsein, die Anschauungsformen etc. fundierte, sondern ist eine extramentale seinsautonome objektive apriorische Struktur. Diese materialen apriorischen Strukturen lassen sich nicht rein empirisch erfassen. Deren Erkenntnis wird aber durch Sinneserkenntnis dem menschlichen Verstand vermittelt. Aufgrund dieser notwendigen Soseinseinheiten gibt es auch notwendige Wesensgesetze und bestehen notwendige Sachverhalte. „Sie gelten“, so ist mit Reinach zu betonen, „von den Wesenheiten als solchen, kraft ihres Wesens – in ihnen haben wir kein zufälliges So-Sein, sondern ein notwendiges So-Sein-Müssen und dem Wesen nach Nicht-anders-sein-Können.“85 So sind notwendige apriorische Sachverhalte, z. B. dass die Spektralfarbe „Orange seiner Qualität nach zwischen Rot und Gelb liegt“86 für die erkennende menschliche Person aufgrund des notwendigen Soseins der betreffenden Wesenheiten, die die notwendigen Sachverhalte fundieren, evident.87 Der Erkennende kann also einsichtigerweise verstehen, dass z. B. die Spektralfarbe „Orange seiner Qualität nach [notwendig] zwischen Rot und Gelb liegt“88 und dies so sein muss und nicht anders seien kann. Dieser Sachverhalt besteht extramental und ist ein notwendiger Sachverhalt, der in allen möglichen Welten besteht. Mit Reinach wendet sich der realistische Phänomenalismus gegen eine Versubjektivierung des A-priori, die zu einer Verkümmerung des A-priori in der philosophischen Forschung führt.89 Dementsprechend heißt nach Reinach der

„1 . Ha u p t s a t z d e r Ph ä n ome n o l o g i e: Jedem gegenständlichen Gebiet ist [eine] Sphäre von apriorischem Gehalt, [eine] Apriori-Wesensgesetzlichkeit zugeordnet, und diese Sphäre ist vor aller empirischen Feststellung zu unterscheiden.“90

Es gilt also die Dinge in ihrem An-sich-Sein zur Anschauung zu bringen. Hierdurch können Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Soseinseinheiten festgestellt werden, nämlich der notwendigen Soseinseinheit, der sinnvollen und der chaotischen Soseinseinheit. Die notwendigen und sinnvollen Soseinseinheiten lassen sich als ὄν καθ‘ αὑτό bezeichnen, da sie Sein sind, das ein spezifisches Wesen besitzt91 und sich deshalb vom ὄν κατὰ συμβεβηκός, dem Zufälligen unterscheidet, das kein spezifisches sinnvolles Wesen besitzt.92 Was unterscheidet die notwendigen Soseinseinheiten von den sinnvollen Soseinseinheiten? Dies haben besonders Hildebrand, Reinach et al. philosophisch klar herausgearbeitet.93 Wie ist also die Erkenntnis des Apriori möglich? Hierzu bedarf es der Methode der Wesenserschauung und Wesensanalyse.94 Wie aber können notwendige Wesenheiten (notwendige Soseinseinheiten) erkannt und erfahren werden? Was heißt es also, Wesensforschung zu betreiben? Mit Conrad-Martius ist hierauf zu antworten: „Die Welt in all ihren realen und idealen Beständen ist voller Sinn. Wesensforschung treiben heißt jedes Seiende – alles was es gibt – nach seinem ihm immanenten Wesen und Sinn aufbrechen.“95 Überdies gilt es mit Hildebrand in Vorbereitung der Wesenserschauung verschiedene Bedeutungen von „Erfahrung“ zu differenzieren. Und so den Terminus „Erfahrung“ von verbreiteten Äquivokationen zu befreien. Erfahrung kann einerseits a) das Erfassen von Seiendem durch die Sinne des Menschen und induktive Erkenntnis meinen und anderseits b) Soseinserfahrung notwendiger Soseinseinheiten. Apriori heißt also, nach dem Offenbarmachen des äquivoken Gebrauches des Wortes „Erfahrung“, nicht unabhängig von jeglicher Erfahrung, wie Kant fälschlicherweise meint, sondern nur unabhängig von empirischer Erfahrung, nicht aber von Soseinserfahrung notwendiger Wesenheiten und der in diesen notwendigen Wesenheiten wurzelnden notwendigen Sachverhalte.96 Die empirische Erfahrung oder Sinneserfahrung ist im Gegensatz zur synthetischen Soseinserfahrung a priori eine synthetisch-aposteriorische Erfahrung. Die Erfahrung notwendiger Soseinseinheiten (Wesenheiten) ist also keine empirische, wenn sie auch empirisch vermittelt worden ist. Reinach schreibt dementsprechend: „Von den [notwendigen] Wesenheiten gelten Gesetze, und diese Gesetze sind unvergleichlich mit allen Tatsachen und allen Tatsachenzusammenhängen, von denen uns die sinnliche Wahrnehmung Kunde verschafft.“97 Diese Erkenntnis ist, wie jede echte Erkenntnis, ein intentionales Geschehen des erkennenden Verstandes. Ohne Intentionalität gäbe es also keine Erkenntnis. Mit Reinach gesprochen „ist Intentionalität [. . . die] unmittelbar zu erfassende Beziehung [der] Erlebnisse auf irgendwelche Objekte.“98 Der erkennende Geist richtet sich vor der Erkenntnis bewusst auf das zu Erkennende aus und umschließt transzendental-geistig-berührend in der rezeptiven Erkenntnis das Erkenntnisobjekt (den Erkenntnisinhalt) aufgrund dessen intrinsischer Intelligiblität. Im notwendigen Sosein der Erkenntnis liegt es begründet, dass sich der Geist auf das Erkannte hin transzendiert. Das Erkannte, genauer gesagt der Erkenntnisinhalt, kann also kein Teil des erkennenden Bewusstseins der erkennenden Person sein, auch wenn das erkennende Subjekt einen individuellen psychischen Erkenntnisakt vollzieht. Der Sachverhalt, dass z. B. Verantwortung99 notwendigerweise Willensfreiheit und Vernunfterkenntnis voraussetzt, kann absolut gewiss erkannt bzw. eingesehen werden. Der nachfolgende, durch das Urteil behauptete Sachverhalt, ist ein materialer synthetischer Sachverhalt a priori:

Abbildung 2.3.: Verschiedene Arten von Erfahrung

Verantwortung setzt notwendigerweise ein freies und vernünftiges Wesen voraus, das Verantwortung trägt, indem es für etwas, das es als dieses erkennt, Verantwortung übernimmt. Dieser Sachverhalt ist im Wesen der Verantwortung ontologisch fundiert und kann aufgrund der intrinsischen Intelligibilität des Wesens der Verantwortung in seinem So-sein-Müssen-und-nicht-Anders-sein-Können absolut gewiss erkannt werden. Hier kann natürlich mit Moritz Schlick (1882-1936) eingewendet werden, dass im Begriff „Verantwortung“ ein freies und vernünftiges Subjekt mitausgesagt wird, das anschließend nur noch expliziert werden muss. Um diesen Einwand zu entkräften, muss zwischen (materialen) synthetischen Urteilen (Sätzen) a priori und analytischen Urteilen (Sätzen) a priori unterschieden werden.100

Husserl geht in seinen Logischen Untersuchungen von 1901 auf diese fundamentale Unterscheidung zwischen dem synthetischen Apriori und dem analytischen Apriori ein, indem er beides voneinander unterscheidet: Es gibt „analytische [. . . ] Allgemeinheiten, wie: ein Ganzes kann nicht ohne Teile existieren“.101 Der Terminus „Ganzes“ impliziert also schon rein formal „Teile“. Dieser Sachverhalt ist also ein tautologischer, der keinen Erkenntnisgewinn mit sich bringt. Da er ein rein formaler Sachverhalt ist, kann er unabhängig vom Inhalt erkannt werden.102

Bei echten materialen synthetischen Sätzen a priori hingegen „z. B. eine Farbe kann nicht sein, ohne Etwas das Farbe hat“103 kann die Erkenntnis des Notwendigen-so-sein-Müssens-und-Nicht-anders-sein-Könnens nur eine inhaltliche sein, die vom jeweiligen objektiven notwendigen Sosein ausgeht. Diese wichtige Unterscheidung verkennt der Empirist Schlick. So kommt er zu der irrigen Meinung, dass es kein materiales Apriori gäbe, da es für ihn, mangels Differenzierung, nur tautologische Urteile, also analytische Urteile a priori gibt.104 Überdies lässt sich auch Schlicks Einwand weiter durch eine Analyse des Begriffs in seinem An-sich-Sein entkräften.

Dies ist u. a. Aufgabe des nächsten Kapitels. Am Beispiel notwendiger Sachverhalte ist andeutungsweise deutlich geworden, dass es sich beim So-sein-Müssen-und-nicht-Anders-sein-Können um keine rein psychologische Gewissheit oder Denknotwendigkeit handelt. Ferner wird bei einer genaueren Wesensschau bzw. Wesensanalyse des notwendigen Wesens der Erkenntnis u. a. klar, dass in jeder echten Erkenntnis das erkennende Subjekt sich selbst in der Berührung des Objektes transzendiert.105 Kant hat durch seine Kritik der reinen Vernunft eine Antwort auf seine Fragen, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, gegeben,106 doch unterscheidet sich seine Begründung wesentlich von der der realistischen Phänomenologie.107

Diese methodischen Reflexionen seien mit der Zurückweisung des Vorwurfs der „Bilderbuch-Phänomenologie“ abgeschlossen, mit dem bisweilen gegen die realistische Phänomenologie polemisiert wird. Dieser Vorwurf basiert, so kann hier resümiert werden, bestenfalls auf Unsachlichkeit. Dies ist durch obige einführende methodologische Reflexionen angedeutet worden.

Es gilt nun, die realistische Phänomenologie als „Methode des Philosophierens“ auf den philosophische Untersuchungsgegenstand der Arbeit, also die menschliche Person korrekt anzuwenden um so, u. a. in Anlehnung an Robert Spaemann et al., sowohl ihr Sosein und Dasein, als auch die ihr zugrundeliegenden philosophischen Sachverhalte zu erörtern, philosophisch zu analysieren und in das eigene Denken integrierend weiterzuentwickeln.

So können die verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks „Person“ differenziert und nach einem adäquaten Begriff der menschlichen Person gesucht werden.


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