Realistische Phänomenologie

Realistische Phänomenologie als Methode des Philosophierens

„Wenn auch die phänomenologische Bewegung niemals in dem Bekenntnis zu bestimmten Lehrmeinungen dasjenige erblicken wird, was ihr Einheit und Kraft verleiht, so wird doch die Natur ihrer Arbeitsweise die Übereinstimmung der Forscher in einer fortschreitenden Zahl von Punkten mit sich bringen“ (Hering, 1921, S. 495).


Obschon die realistische Phänomenologie keine philosophische Schulrichtung oder ein Lehrgebäude von wahren philosophischen Erkenntnissen ist und sein kann, kann Edmund Husserl (1859-1938) mit seinen Logischen Untersuchungen von 1900 und 1901 als ihr Initiator angesehen werden.

Dies schließt natürlich mögliche Mitinitiatoren, wie z. B. Adolf Reinach (1883-1917) et al. nicht aus. Reinach wird z. B. von Mitgliedern des Münchener-Göttinger-Schülerkreises Husserls18 als Urphänomenologe bezeichnet.19 Husserl kann als Initiator dreier, grundverschiedener, einander widersprechender phänomenologischer Richtungen angesehen werden, nämlich der realistischen, der transzendental-idealistischen und der existentialistischen Phänomenologie (Vgl. erste Abb. unten).

Die, an ihrer Bekanntheit und Verbreitung gemessene, bis dato kleinste dieser drei phänomenologischen Richtungen ist die realistische Phänomenologie. Was zeichnet diese philosophische Methode aus?

Zurück zu den Sachen selbst

Husserls Forderung „Wir wollen auf die ‘Sachen selbst’ zurückgehen“ kann, realistisch verstanden, als Grundprinzip der realistischen Phänomenologie begriffen werden. Das Grundprinzip der realistischen Phänomenologie kann auch mit Peter Wust (1884-1940) als „ein Maßnehmen an den maßgebenden Dingen“ beschrieben werden.

Interesse am An-sich-Sein der Dinge

Dies bringt es mit sich, dass das Interesse der realistischen Phänomenologie kein doxographisches ist. Sie will keine Philosophiegeschichte betreiben und ist somit an den notwendigen Wesensgesetzen, die jeden Seinsbereich betreffen, interessiert, sowie an dem An-sich-Sein der Dinge selbst, den urphänomenalen Data, bzw. dem objektiv Notwendigen. Hierbei begreift die realistische Phänomenologie das An-sich-Sein der Dinge selbst realistisch. Das heißt, so lautet eine Grundthese der realistischen Phänomenologie, dass bestimmtes Seiendes seinsautonom existiert, also nicht vom erkennenden Bewußtsein seinsmäßig abhängt, wie z. B. die rein intentionalen Gegenstände.

Es gibt Extramentales Seiendes

Extramentales Seiendes existiert wirklich und gibt nicht nur für das es erkennende Bewußtsein vor, wirklich zu existieren. Dieser Sachverhalt kann z. B. im augustinischen si fallor, sum einsichtig gemacht werden. Extramentales Seiendes existiert also unabhängig davon, ob es von bestimmten Menschen erkannt wird oder nicht. Täuschung, Traum, Fiktion etc. kann es somit ohne Realität nicht geben, da es ansonsten z. B. keinen Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit geben würde und somit alle Wirklichkeit Traum wäre. Wenn aber alle Wirklichkeit Traum ist, gibt es gar keinen Traum und auch keinen Träumenden, der etwas wirklich träumt und im Traum etwas wirklich erkennt, das vorgibt wirklich zu sein. Es kann also sowohl das Wesen eines real Seienden (τὸ τί ἦν εἶναι), als auch das reale Ding, in dem das Wesen verwirklicht ist, seiner Existenz nach erkannt werden. Überdies kann auch die Wesenheit (εἶδος), nach der das reale Wesen ist, erkannt werden. Anderes Seiendes, wie z. B. Töne oder Farben besitzen auch ein objektives Eigensein (Sosein), jedoch existiert dieses Seiende nicht unabhängig vom erkennenden Menschen. Immanentistische Ansichten, wie z. B. dass die Wirklichkeit, wie sie dem jeweiligen Menschen in dem sich ihm darbietendem Wirklichsein erscheint, seien nicht mehr als ein intentionaler Gegenstand, der vollkommen von dem ihn konstituierenden Bewusstsein seinsmäßig abhängt, sind mit den durch die realistische Phänomenologie verteidigten philosophischen Positionen nicht vereinbar.

Husserl kann als Initiator dreier, grundverschiedener, einander widersprechender phänomenologischer Richtungen angesehen werden, nämlich der realistischen, der transzendental-idealistischen und der existentialistischen Phänomenologie (Abb. unten). Die, an ihrer Bekanntheit und Verbreitung gemessene, bis dato kleinste dieser drei phänomenologischen Richtungen ist die realistischen Phänomenologie. Was zeichnet diese philosophische Methode aus?

Verschiedene Arten von Soseinseinheiten

Das ὄν καθ‘ αὑτό lässt sich vom ὄν κατὰ συμβεβηκός unterscheiden. Zum ersteren gehören die notwendigen Soseinseinheiten, als auch die sinnvollen Soseinseinheiten, zum letzteren die zufälligen Soseinseinheiten (Vgl. Abb.).

Es gilt also die Dinge selbst durch unmittelbaren Sachkontakt bzw. Wesenserschauung und Wesensanalyse in ihrem authentischen Sosein philosophisch in den Blick zu nehmen und nach Möglichkeit notwendige Sachverhalte und notwendige Wesensgesetze zur Evidenz zu bringen. Von dieser geistig-einsichtigen Schau ausgehend und immer wieder zu dieser Erschauung zurückkehrend, gilt es systematisch zu philosophieren. Es sind also alle möglichen philosophische Fragen erlaubt und erwünscht, dies gilt v. v. auch für die jeweiligen Antwortversuche. Sog. Letztbegründungen u. ä., sind nicht unmöglich, wenn sie gut erklärt und einsichtig gemacht werden und insofern von einem falschen, der echten Philosophie ganz fremden, Dogmatismus abgrenzt werden. Andererseits sind stillschweigende philosophische Vorentscheide i. e. Vorurteile aufzugeben. Hierzu zählen auch sog. Pauschalargumente, die keine Argumente sind, sondern informale Paralogismen bzw. informale Sophismata. Pauschalargumente fußen nicht auf der Erfahrung und dgl., sondern auf Unkenntnis von Realkonstatierungen und Indizien. Folglich haben Pauschalargumente wie, „nach Kant ist die Metaphysik endgültig überwunden“ und dgl. in einer wissenschaftlichen philosophischen Arbeit, außer als Negativbeispiel keine Berechtigung.

Erkennbarkeit der Dinge

Überdies wird auch das Dasein der Dinge, jedenfalls der Möglichkeit nach, als erkennbar betrachtet, das heißt der realistische Phänomenologe wendet sich gegen einen falschen ausschließlichen Essentialismus, der das Urphänomen der Existenz reduktionistisch verkennt. Hierbei ist der philosophische Blick von aller Trübung und Voreingenommenheit zu befreien, besonders indem Systemdenken und materiale Reduktionismen vermieden werden und weltanschauliche Paradigmen als eben diese erkannt werden. Außerdem ist es für das verständliche wissenschaftliche Philosophieren von fundamentaler Wichtigkeit, eine klare präzise und eindeutige philosophische Begrifflichkeit zu verwenden, die sich mittels der Bedeutungsunterscheidung von möglichen Äquivokationen innerhalb ihrer Terminologie befreit hat und so auch die Bedeutungen der verwendeten grundlegenden philosophischen Ausdrücke offenlegt.

Die Grundmaxime Husserls „Wir wollen auf die ‘Sachen selbst’ zurückgehen“, realistisch interpretiert, haben sich besonders die Münchener-Göttinger-Schüler Husserls zu eigen gemacht. Diese haben Husserls Wende zum transzendentalen Idealismus kritisiert und nicht mitvollzogen und können deswegen als realistische Phänomenologen bezeichnet werden. Die realistische Interpretation des „Zurück zu den Sachen selbst“ ist also eine Absage an den Skeptizismus, Relativismus (z. B. an den Psychologismus und an den Empirismus) und somit auch an jede Spielart des idealistischen Subjektivismus.

Realistische Phänomenologen

Zu dem Kreis der frühen realistischen Phänomenologen, die noch durch Husserl z. T. im Sinne eines reinen Essentialismus beeinflusst waren, und inhaltlich durchaus unterschiedliche philosophische Thesen vertraten, gehören z. B. Adolf Reinach, [[Alexander Pfänder|]] (1870-1941), Dietrich von Hildebrand (1889-1977), Edith Stein (1891-1942), Hedwig Conrad-Martius (1888-1966), Roman Ingarden (1893-1970) et al.

Husserls philosophische Wende

Ab ca. 1905 vollzog Husserl eine, sich über einen längeren Zeitraum entwickelnde, geistige Wende hin zu einem transzendentalen Idealismus. Husserls Wende zum transzendentalen Idealismus kann hier nur angedeutet werden, sie wurde von vielen seiner Schüler nicht mitvollzogen und kritisiert. Nach Husserls späterer subjektivistischen transzendental-idealistischen Ansicht, wenn diese auch bisweilen nicht immer deutlich ausgedrückt wird und von ihm selbst sogar bestritten wird, scheint Husserl davon auszugehen, dass die reale Welt von dem Bewusstsein abhängig sei und dass das bewusste Subjekt diese als „Weltphänomen“ konstituiert. So geraten z. B. die Wirklichkeit des Bewusstseins, dem etwas erscheint, in seinem Realsein und auch andere seinsautonome Dinge aus dem philosophischen Blick. Diese philosophische Ansicht wird deswegen zu Recht als transzendentaler Idealismus bezeichnet. Dieser ist eine starke Form des subjektivistischen Immanetismus, da u. a. die Seinsautonomie der realen Dinge durch die Seinsabhängigkeit vom bewussten Subjekt ersetzt wird.


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